Sonntag, 8. Juli 2012

Geschichten des Lebens XXIV – Los Gelassen




„Sie ist tot.“
So unerwartet wie diese Worte auf sie einprallten, so unfassbar scheinen sie in ihr zu wirken. Alle Gedanken sind verschwunden. Alles zieht wie in einem Film an ihr vorbei. Ihr ist schwindlig. Sie kann nicht wirklich für sich realisieren, was geschehen sein soll. Gleichzeitig kehrt in sie eine so große Stille ein, wie sie es nur in sehr wenigen und ganz besonderen Momenten erlebt hat. Sie fühlt sich traurig, aber es ist kein Schmerz. Sie nimmt wahr, dass jemand einfach so und viel zu früh aus dem Leben gerissen wurde, doch sie spürt keinen Schmerz. Selbst der Gedanke, dass es jeden, zu jeder Zeit treffen kann, nimmt sie in sich auf und wahr, aber sie verspürt keine Angst. Sie ist einfach Leer.
Die Fassungslosigkeit über diese Nachricht ist zu überwältigend. Was für Worte soll sie jetzt finden, für die engsten Familienangehörigen, obgleich sie ebenso zur Familie gehört. Sie verspürt großes Mitgefühl, aber sie kann es nicht äußern. Nicht sofort und in diesem Augenblick, da sie es für sich erst realisieren muss. Vorher kann sie es nicht so mitteilen wie man es von ihr erwartet. Erwartet man wirklich irgendetwas von ihr?
Sie sitzt stundenlang auf ihrem Bett und schaut einfach nur aus dem Fenster. Alles zieht einfach so an ihr vorbei und kaum ein Gedanke ist zu greifen. Sie verspürt nur, dass in ihr etwas geschieht, was sie in solch einer Situation noch nie erlebt hat. Normalerweise weint sie und spürt eine große Trauer über den Verlust eines Menschen. Nur dieses Mal ist es anders. Oder ist sie schon so abgestumpft, auf Grund der vielen Beerdigungen auf denen sie in ihrem Leben schon war. Sie spürt in sich einen kleinen Moment nach. Nein, es lässt sie nicht kalt, denn es arbeitet in ihr ungemein. Nur kann sie es nicht in Worte fassen, geschweige denn, dass sie einen Gedanken zu greifen bekommt. Also lässt sie alles in sich weiter geschehen.
Diese Leere, ist nicht diese Schwere über den Verlust eines Menschen. Nein. All ihre Kämpfe, die sie bis zum Eintreffen dieser Nachricht in sich getragen hat, haben sich mit einem Schlag aufgelöst. Entscheidungen, Zweifel und Ängste die in ihr wohnten, sind verschwunden. Ein wenig wütend ist sie auf sich, als sie das erkennt, das sie um ein weiteres Mal feststellen muss, dass sie sich wieder einmal damit beladen hat. Das bestehen in dieser Gesellschaft, das Erklären und Rechtfertigen, das Darstellen nur um Anerkannt und geliebt zu werden hat nichts mit dem tatsächlichen Leben zu tun. Es sind alles nur Illusionen und Kämpfe. Warum sollte man diese Kämpfe machen, wenn sie einem nur Schaden zufügen. Sie schaden einem Selber und auch den anderen Menschen. Nein. Sie will leben und nicht diesen Trott weitermachen.
Sie fühlt sie Leer und Befreit. Sie fühlt die Ruhe und den Frieden in sich und hat das Gefühl eine weitere Suche hat abrupt ein Ende gefunden. Sie sieht keinen Sinn in einer weiteren Suche, da alles was sie braucht und hat, alles was Leben und Liebe ist in sich trägt. Das Wesentliche hat sie und alles was sie erfüllt ist in ihr. Warum sollte sie nach etwas höherem streben. Was ist höher? Das Mehr an materiellen Dingen oder das Mehr an Anerkennung durch die Arbeit? Nein, je mehr sie im Mittelpunkt steht, um so mehr hat sie das Gefühl nicht sie selbst zu sein. Also warum nach höheren Zielen streben, wenn sie sich dabei verlieren würde? Gewusst hat sie das alles schon. Ab und an hat sie es auch für längere oder kürzere Zeit gelebt. Was oder Wem sollte sie also jetzt noch etwas beweisen? Immer wieder überfällt sie nach einem kurzen Gedankenlauf diese Leere die immer noch nichts schweres in sich trägt, sondern immer leichter in ihr ruht. Als würde sie die Lasten ihrer Gedanken, Ängste und Kämpfe vollends von ihr nehmen. Das Einzige was ihr schwer fällt anzunehmen in diesem restlichen Gedankenlauf, auch die Menschen einfach ziehen zu lassen, die aus was für Gründen auch immer nicht mehr mit ihr im Kontakt stehen, einfach ziehen zu lassen. Sie spürt in diesem Prozess immer mehr, wie wichtig es ist, das man nicht nur sich selber und das Leben achtet. So spürt sie in dieser Dankbarkeit und Liebe für das Leben auch, dass sich die Menschen gegenseitig mehr achten sollten und die Geschenke des Lebens, in ihren Begegnungen, nicht einfach so leichtfertig hinnehmen oder wegwerfen sollten. Oder sieht sie es einfach nur als ein leichtfertiges Verhalten an, wenn Familien und Freunde getrennt sind und es einfach hinnehmen, statt sich zu bemühen, das so etwas nicht geschieht? Wie oft erlebt sie es, dass man sich aus den Augen verliert, und spätestens wenn man von dem Tod erfährt, wünscht man sich, dass man den Kontakt nicht abgebrochen hätte. Oder, warum die Begegnung, diese Zeit nicht mehr zu schätzen gewusst hat, sondern alles einfach so hingenommen hat, ebenso das der Kontakt abgebrochen ist. Nur  was könnte sie machen, damit sie nicht in diesen alten Kampf zurück muss. Nein, sie möchte nicht um die Liebe anderer Menschen kämpfen müssen, denn die Zeit des Lebens ist einfach zu kostbar, das  begreift sie nun noch mehr, als es vor dieser Todesnachricht schon war. Sie kann sowieso niemanden zwingen und ändern wird sie es wahrscheinlich auch nicht können. Aber soll sie das einfach so hinnehmen, die Erkenntnis und das Loslassen, von jedem der sie umgibt. Ihr fällt ein Spruch ein, den sie schon oft gelesen hat und wahrscheinlich jetzt noch mehr Wahrheit in sich trägt, als sie es vorher schon spüren konnte. „Was du liebst, lass frei. Kommt es zurück, gehört es dir – für immer.“ Wahrscheinlich wird ihr nichts anderes übrig bleiben, als auf diese Weisheit und Wahrheit zu vertrauen. Weiter für die Menschen da zu sein, die sie brauchen, die sie so sehen und lieben wie sie ist, ohne sich selber wieder aus den Augen und den Irritationen des Egos und der Gesellschaft zu verlieren. Sie lässt jetzt ohne Ausnahme los und alles andere wird sie dem Leben überlassen, für welches sie von Moment zu Moment immer Dankbarer wird, als sie es so schon war.
Nein, diese Leere hat nichts mit Resignation zu tun. In all den Begegnungen die sie immer wieder mit dem Tod machen muss, kann sie jetzt auch zum ersten Mal etwas Gutes sehen, denn er weist ihr einen Weg, der sie aus der Irre zu sich selber und zum Leben führt. Einen Weg in die unendliche Leere und Leichtigkeit des Seins und in den gegenwärtigen Moment, mit all seinen Aufgaben, wenn sie ihm wirklich in die Augen blick und zulässt. Der Sinn und die Sinnlosigkeit in ihrem Leben werden noch durchsichtiger als sie vorher waren.
Die Nacht ist schon eingebrochen, als sie aus ihrer Versenkung heraus bricht und fühlt sich unendlich ruhig und frei und gleichzeitig so sehr mit Dankbarkeit, Demut und Liebe erfüllt, welches sie in einem stillen Gebet der Toten zum Ausdruck bringt.
„Ich bin dankbar dafür, das ich einen Platz in deinem Leben hatte, auch wenn wir zwischendurch keinen Kontakt hatten. Du bist viel zu plötzlich, unerwartet und viel zu früh von uns gegangen. Um so mehr, bin ich dankbar für die Zeit die wir  hatten. Bei mir und auch bei allen anderen hast du Spuren hinterlassen, die wir jetzt in die Welt hinaustragen sollten, damit aus den von dir gestreuten Samen, wundervolle Blumen erblühen können. Du hast dieses Leben mit all deiner Bescheidenheit, Liebe und Güte bereichert und dafür sollten wir alle dankbar sein und uns immer während daran erinnern, was du uns für ein Geschenk hinterlassen hast. Ich wünsche dir in all der Stille und Dankbarkeit, Ruhe und Frieden.“
Auch sie zieht sich in die Stille der Nacht, ihre bestehende Einsamkeit und in ihren gewonnen Frieden, die Ruhe, die Leichtigkeit und Leere, voll mit Leben zurück und fällt in einen tiefen, kurzen, aber sehr erkenntnisreichen Schlaf.

© by Emma Wolff (30.05.2012)



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