„Sie
ist tot.“
So
unerwartet wie diese Worte auf sie einprallten, so unfassbar scheinen sie in
ihr zu wirken. Alle Gedanken sind verschwunden. Alles zieht wie in einem Film
an ihr vorbei. Ihr ist schwindlig. Sie kann nicht wirklich für sich
realisieren, was geschehen sein soll. Gleichzeitig kehrt in sie eine so große
Stille ein, wie sie es nur in sehr wenigen und ganz besonderen Momenten erlebt
hat. Sie fühlt sich traurig, aber es ist kein Schmerz. Sie nimmt wahr, dass
jemand einfach so und viel zu früh aus dem Leben gerissen wurde, doch sie spürt
keinen Schmerz. Selbst der Gedanke, dass es jeden, zu jeder Zeit treffen kann,
nimmt sie in sich auf und wahr, aber sie verspürt keine Angst. Sie ist einfach
Leer.
Die
Fassungslosigkeit über diese Nachricht ist zu überwältigend. Was für Worte soll
sie jetzt finden, für die engsten Familienangehörigen, obgleich sie ebenso zur
Familie gehört. Sie verspürt großes Mitgefühl, aber sie kann es nicht äußern.
Nicht sofort und in diesem Augenblick, da sie es für sich erst realisieren
muss. Vorher kann sie es nicht so mitteilen wie man es von ihr erwartet.
Erwartet man wirklich irgendetwas von ihr?
Sie
sitzt stundenlang auf ihrem Bett und schaut einfach nur aus dem Fenster. Alles zieht
einfach so an ihr vorbei und kaum ein Gedanke ist zu greifen. Sie verspürt nur,
dass in ihr etwas geschieht, was sie in solch einer Situation noch nie erlebt
hat. Normalerweise weint sie und spürt eine große Trauer über den Verlust eines
Menschen. Nur dieses Mal ist es anders. Oder ist sie schon so abgestumpft, auf
Grund der vielen Beerdigungen auf denen sie in ihrem Leben schon war. Sie spürt
in sich einen kleinen Moment nach. Nein, es lässt sie nicht kalt, denn es
arbeitet in ihr ungemein. Nur kann sie es nicht in Worte fassen, geschweige
denn, dass sie einen Gedanken zu greifen bekommt. Also lässt sie alles in sich
weiter geschehen.
Diese
Leere, ist nicht diese Schwere über den Verlust eines Menschen. Nein. All ihre
Kämpfe, die sie bis zum Eintreffen dieser Nachricht in sich getragen hat, haben
sich mit einem Schlag aufgelöst. Entscheidungen, Zweifel und Ängste die in ihr
wohnten, sind verschwunden. Ein wenig wütend ist sie auf sich, als sie das
erkennt, das sie um ein weiteres Mal feststellen muss, dass sie sich wieder
einmal damit beladen hat. Das bestehen in dieser Gesellschaft, das Erklären und
Rechtfertigen, das Darstellen nur um Anerkannt und geliebt zu werden hat nichts
mit dem tatsächlichen Leben zu tun. Es sind alles nur Illusionen und Kämpfe.
Warum sollte man diese Kämpfe machen, wenn sie einem nur Schaden zufügen. Sie
schaden einem Selber und auch den anderen Menschen. Nein. Sie will leben und
nicht diesen Trott weitermachen.
Sie
fühlt sie Leer und Befreit. Sie fühlt die Ruhe und den Frieden in sich und hat
das Gefühl eine weitere Suche hat abrupt ein Ende gefunden. Sie sieht keinen
Sinn in einer weiteren Suche, da alles was sie braucht und hat, alles was Leben
und Liebe ist in sich trägt. Das Wesentliche hat sie und alles was sie erfüllt
ist in ihr. Warum sollte sie nach etwas höherem streben. Was ist höher? Das
Mehr an materiellen Dingen oder das Mehr an Anerkennung durch die Arbeit? Nein,
je mehr sie im Mittelpunkt steht, um so mehr hat sie das Gefühl nicht sie
selbst zu sein. Also warum nach höheren Zielen streben, wenn sie sich dabei
verlieren würde? Gewusst hat sie das alles schon. Ab und an hat sie es auch für
längere oder kürzere Zeit gelebt. Was oder Wem sollte sie also jetzt noch etwas
beweisen? Immer wieder überfällt sie nach einem kurzen Gedankenlauf diese Leere
die immer noch nichts schweres in sich trägt, sondern immer leichter in ihr
ruht. Als würde sie die Lasten ihrer Gedanken, Ängste und Kämpfe vollends von
ihr nehmen. Das Einzige was ihr schwer fällt anzunehmen in diesem restlichen
Gedankenlauf, auch die Menschen einfach ziehen zu lassen, die aus was für
Gründen auch immer nicht mehr mit ihr im Kontakt stehen, einfach ziehen zu
lassen. Sie spürt in diesem Prozess immer mehr, wie wichtig es ist, das man
nicht nur sich selber und das Leben achtet. So spürt sie in dieser Dankbarkeit
und Liebe für das Leben auch, dass sich die Menschen gegenseitig mehr achten
sollten und die Geschenke des Lebens, in ihren Begegnungen, nicht einfach so
leichtfertig hinnehmen oder wegwerfen sollten. Oder sieht sie es einfach nur
als ein leichtfertiges Verhalten an, wenn Familien und Freunde getrennt sind
und es einfach hinnehmen, statt sich zu bemühen, das so etwas nicht geschieht?
Wie oft erlebt sie es, dass man sich aus den Augen verliert, und spätestens
wenn man von dem Tod erfährt, wünscht man sich, dass man den Kontakt nicht
abgebrochen hätte. Oder, warum die Begegnung, diese Zeit nicht mehr zu schätzen
gewusst hat, sondern alles einfach so hingenommen hat, ebenso das der Kontakt
abgebrochen ist. Nur was könnte sie
machen, damit sie nicht in diesen alten Kampf zurück muss. Nein, sie möchte
nicht um die Liebe anderer Menschen kämpfen müssen, denn die Zeit des Lebens
ist einfach zu kostbar, das begreift sie
nun noch mehr, als es vor dieser Todesnachricht schon war. Sie kann sowieso
niemanden zwingen und ändern wird sie es wahrscheinlich auch nicht können. Aber
soll sie das einfach so hinnehmen, die Erkenntnis und das Loslassen, von jedem
der sie umgibt. Ihr fällt ein Spruch ein, den sie schon oft gelesen hat und
wahrscheinlich jetzt noch mehr Wahrheit in sich trägt, als sie es vorher schon
spüren konnte. „Was du liebst, lass frei. Kommt es zurück, gehört es dir – für
immer.“ Wahrscheinlich wird ihr nichts anderes übrig bleiben, als auf diese
Weisheit und Wahrheit zu vertrauen. Weiter für die Menschen da zu sein, die sie
brauchen, die sie so sehen und lieben wie sie ist, ohne sich selber wieder aus
den Augen und den Irritationen des Egos und der Gesellschaft zu verlieren. Sie
lässt jetzt ohne Ausnahme los und alles andere wird sie dem Leben überlassen,
für welches sie von Moment zu Moment immer Dankbarer wird, als sie es so schon
war.
Nein,
diese Leere hat nichts mit Resignation zu tun. In all den Begegnungen die sie
immer wieder mit dem Tod machen muss, kann sie jetzt auch zum ersten Mal etwas
Gutes sehen, denn er weist ihr einen Weg, der sie aus der Irre zu sich selber
und zum Leben führt. Einen Weg in die unendliche Leere und Leichtigkeit des
Seins und in den gegenwärtigen Moment, mit all seinen Aufgaben, wenn sie ihm
wirklich in die Augen blick und zulässt. Der Sinn und die Sinnlosigkeit in
ihrem Leben werden noch durchsichtiger als sie vorher waren.
Die
Nacht ist schon eingebrochen, als sie aus ihrer Versenkung heraus bricht und
fühlt sich unendlich ruhig und frei und gleichzeitig so sehr mit Dankbarkeit,
Demut und Liebe erfüllt, welches sie in einem stillen Gebet der Toten zum
Ausdruck bringt.
„Ich
bin dankbar dafür, das ich einen Platz in deinem Leben hatte, auch wenn wir
zwischendurch keinen Kontakt hatten. Du bist viel zu plötzlich, unerwartet und
viel zu früh von uns gegangen. Um so mehr, bin ich dankbar für die Zeit die
wir hatten. Bei mir und auch bei allen
anderen hast du Spuren hinterlassen, die wir jetzt in die Welt hinaustragen
sollten, damit aus den von dir gestreuten Samen, wundervolle Blumen erblühen
können. Du hast dieses Leben mit all deiner Bescheidenheit, Liebe und Güte
bereichert und dafür sollten wir alle dankbar sein und uns immer während daran
erinnern, was du uns für ein Geschenk hinterlassen hast. Ich wünsche dir in all
der Stille und Dankbarkeit, Ruhe und Frieden.“
Auch
sie zieht sich in die Stille der Nacht, ihre bestehende Einsamkeit und in ihren
gewonnen Frieden, die Ruhe, die Leichtigkeit und Leere, voll mit Leben zurück und
fällt in einen tiefen, kurzen, aber sehr erkenntnisreichen Schlaf.
©
by Emma Wolff (30.05.2012)
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