Sonntag, 11. März 2012

Geschichten des Lebens VII




Weinend steht sie mitten auf der Straße und hilfesuchend verloren fällt der Blick über alles was ihr Auge verschwommen erfassen kann. Als hätte sich der Boden unter ihr aufgetan und möchte sie verschlingen. Die Last die sie seit Jahren mit gewohnter Leichtigkeit auf ihren Schultern trug, lässt sie bald darunter zerbrechen. Wie konnte das alles nur geschehen? Wieso hat sie sich jetzt nicht besser unter Kontrolle?

Vier Kinder hat sie zur Welt gebracht und es war nicht immer wirklich einfach. Sie und ihr Mann haben viel dafür gearbeitet, einzig und alleine dafür, dass es den Kindern gut geht und es ihnen an nicht Notwendigem fehlt. Jeder musste seinen Teil dafür beitragen und hatte seine Aufgabe. Die Familie war wie ein gut funktionierendes Maschinenwerk, in dem jedes Zahnrad ineinander griff. Die Kinder waren aus dem Gröbsten raus und auch sie konnte wieder mehr arbeiten gehen. Aber das, was jetzt geschehen ist, übertrifft jede Vorstellung.
Sie war nur auf Arbeit und freute sich darauf, dass sie einen schönen Abend mit ihrer Familie verbringen kann. Sie wollten den Geburtstag ihrer Tochter feiern. Jedoch kam alles ganz anders. Sie brauchte noch nicht einmal die Tür aufschließen und vernahm schon die Stimme ihres Mannes, der außer sich zu sein schien. Als sie die Wohnung betrat, sah sie nur ihre verstörten Söhne im Flur stehen und ihren Mann der vollkommen aufgebracht durch die Wohnung rannte und immer wieder schrie sie sei einfach weg.
Sie verstand im ersten Moment nicht was los war und er zeigte nur auf das Zimmer der Tochter. Alle Schränke waren leer geräumt und auf dem Schreibtisch lag nur ein Zettel auf dem sie mitteilte, dass sie nie mehr wieder kommen würde. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf, aber nichts konnte sie greifen. Sie verstand ihre Welt nicht mehr. Was war geschehen? Es war doch ihr 18. Geburtstag und sie hatten gemeinsam für diesen Tag geplant. Natürlich wusste sie auch, wie aufbrausend ihr Mann sein konnte. Sei schrie ihn an und wollte Antworten von ihm haben. Jedoch, er brachte in derselben Lautstärke, all seine Verzweiflung und Hilflosigkeit zu Tage, die sich über die letzten Stunden aufgestaut hatte. Schweigend verließ sie den Raum und verschwand weinend im Schlafzimmer.  Die nächsten Tage nahm sie an, es würde gut tun, wenn sie arbeiten gehen würde, denn das würde sie ablenken. Aber wirklich viel half dies auch nicht. Immer wieder fragte sie sich, ob sie etwas übersehen hatte oder ob sie etwas getan hatte, was ihre Tochter zu diesem Schritt getrieben hatte. Nach und nach telefonierte sie alle Freunde ab und auch bei den Nachbarn, zu denen sie guten Kontakt hatten, fragte sie nach. Immer in der Hoffnung, dass sie ihr Antworten auf ihre Fragen bringen könnten. Nur jeder reagierte gleich entsetzt und konnte ihr nicht weiter helfen. Ihre Tochter hatte einen Freund, doch dort wurde sie am Telefon immer nur weggedrückt. Das lies sie zumindest hoffen das sie dort war.  Sie möchte so gerne verstehen.
Nur zwei Tage später hat ihr Sohn den Briefkasten geleert und ihr die Post ohne weitere Beachtung gereicht. Sie wunderte sich nur über einen einzelnen Brief von einem Anwalt. Voll der Aufregung riss sie das Kuvert einfach auf und konnte nicht fassen was da geschrieben stand. Ihre Tochter hat sie angezeigt. Der Vater hätte sie über Jahre sexuell missbraucht und sie hätte dort wie eine Sklavin gelebt.
Die eben gelesenen Papiere fallen ihr nur noch aus der Hand und der Boden tut sich unter den Füßen auf. Reicht es nicht, dass sie ohne jedes weitere Wort ausgezogen ist? Was sollen jetzt diese falschen Anschuldigungen? Sie versteht die Welt in der sie sich befindet immer weniger. Was ist nur geschehen? Weinend bricht sie in ihrer Küche zusammen und kann sich nicht mehr beruhigen. Ihr Mann ist außer sich, wegen der Anklage die einer infamen Verleumdung gleicht.

Und nun steht sie nach Monaten weinend mitten auf der Straße und hilfesuchend verloren fällt der Blick über alles was ihr Auge verschwommen erfassen kann. Als hätte sich der Boden unter ihr aufgetan und möchte sie verschlingen. Die Last die sie seit Jahren mit gewohnter Leichtigkeit auf ihren Schultern trug, lässt sie bald darunter zerbrechen. Wie konnte das alles nur geschehen? Wieso hat sie sich jetzt nicht besser unter Kontrolle?
Das schlimmste was einer Mutter widerfahren kann ist geschehen. Ihre Tochter will sie nicht mehr kennen. Selbst im Gerichtssaal, war die ganze Familie der Tochter keines Blickes würdig. An den Haaren herbei gezogene Anschuldigungen ohne Beweise musste sie über sich ergehen lassen. Zeugen, die sie noch nie in ihrem Leben gesehen hat und Menschen, die sie nur flüchtig vom Straßenbild kennt, klagen sie an. Wieso tut ihr ihre Tochter das nur an? Wie lange soll dieser Prozess noch gehen? ‚Was hat sie nur falsch gemacht?’, fragt sie sich immer wieder. Alle leiden so sehr unter diesen Umständen. Ihre Söhne haben jedes Vertrauen in die Menschen verloren. Wie soll sie ihnen nur Mut machen, denn ihnen geht es ebenso wie ihr, sie verstehen die Welt nicht mehr.
So hofft sie jeden weiteren Tag, dass sie Lösungen finden wird und die Last eines Tages von ihren Schultern verschwindet. Sie irgendwann wieder Luft holen kann und ungeachtet all der ganzen Demütigungen und Verleumdungen, wieder Aufrecht und mit Freude die Straßen und Wege des Lebens entlang gehen kann.

© by Emma Wolff (8.3.2012)



2 Kommentare:

  1. Schwieriges Thema, uns der Text arbeitet noch in mir.

    «Ihre Tochter hatte einen Freund, doch dort wurde sie am Telefon immer nur weggedrückt.»

    Ser Satz da, sein letztes Wort: an diesem erkenne ich, daß der Text im Handyzeitalter entstanden ist. Früher gab es nämlich keine Rufnummernübertragung. Erst im Gespräch , beim Hören der ersten Worte, konnt man sich dazu entscheiden, ziemlich wort- und herzlos wieder aufzulegen …

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    1. Danke lieber Emil ;)

      Ja leider kann man sich schon seit sehr langer Zeit, denn das Handyzeitalter und die Rufnummernübertragung existieren ja schon etliche Jahre, hinter den Geräten die Klingeln und Piepsen, heute sogar schon nervtötend Songs spielen, feige verstecken und abwarten bis die Zeit verstrichen ist. Jeglicher Art von Konfrontation wird damit leider nur noch aus dem Weg gegangen in der Hoffnung das sich Konflikte und Probleme von alleine lösen. Eigentlich finde ich das eine traurige Entwicklung der Gesellschaft. So würde ich das zum Beispiel nicht mit meinem Gewissen vereinbaren können, aber gut, ich kann nicht von mir auf andere schließen, wenn ich genau weiß das ein Großteil der Menschen es in vielen unangenehmen Situationen lieber vorzieht, nicht abzunehmen.

      Ganz viele liebe und dankbare Grüße nach Halle
      Emma

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